Binsenlied
Video-Zeichnung 2025, Ein-Kanal-Projektion, Animation 35 Min., Loop
Die neue Installation BINSENLIED hat die Biodiversität im Spreewald zum Thema.
Video-Zeichnungen von Pflanzen wie Flatterbinse, Sumpfporst, Blutweiderich und Wiesenalant wandern durch den Raum, ihre Namen werden auf Deutsch und Niedersorbisch/Wendisch eingelesen.
Die Pflanzen sind jeweils mit einer Linie gezeichnet. Die Linien verwandeln sich ineinander, sie zeichnen dabei Prozesse des Werdens und Vergehens.
Ergänzend zum Video zeigen zwei Fotos den Senftenberger See und einen Plattenbau mit Sommerblumenwiese.
Die Arbeit entstand mit Unterstützung von Jens Martin, Autor des Wörterbuches der niedersorbischen/wendischen Pflanzen- Pilz- und Flechtennamen (zus. mit Heinz-Dieter Krausch). Im Zuge heimatkundlicher Forschungen trugen die beiden Autoren niedersorbische Volksnamen von über 500 Pflanzenarten zusammen. Zwischen 1950 und 2019 werteten sie Literatur aus und befragten die Bewohnerinnen des Spreewaldes. Viele Informationen stammen aus Orten, die inzwischen dem Braunkohletagebau zum Opfer fielen oder in denen die wendische Sprache aufgegeben wurde.
Installation in der Galerie Mönch Berlin, 2025
Galerie Mönch Berlin, 2025



Ausstellungen
Galerie Mönch Berlin, 2025
galeriemoench.de
Rede zur Ausstellungseröffnung Betina Kuntzsch BINSENLIED am 26. April 2025.
Von Michaela Nolte
Eine Linie leuchtet und wandert über die Wand. Formiert sich zu Blättern und Blüten, zu einer Pflanze. Der Gewöhnliche Blutweiderich oder das Scharbockskraut tauchen auf, ziehen durch den Raum und lösen sich wieder auf.
Wenn sie Gestalt annehmen, verwandeln sich in den ebenso bewegten wie bewegenden Animationen die Striche – respektive die eine Linie, mit der Betina jede dieser Pflanzen gezeichnet hat –, in Wurzeln und Blüten, in Blätter und Figuren, manche mit animistischen Zügen. Mischformen und Mischwesen, die interagieren.
In Betinas jüngster Audio-Video-Installation können wir Pflanzenarten beim Keimen zusehen, können ihr Wachsen und Erblühen beobachten, aber auch ihr Verblühen bis sie wieder zu Erde zerfallen.
Das Wachstum im Zeitraffer als graziler und dynamischer Tanz der Natur, als Symbol für das Werden und Vergehen im Loop unseres Daseins.
Die Expansion der Linien im Raum – entfaltet – mal als flirrender Rhythmus -, mal in einem ruhigen, meditativen Fluss – Raum – für Phantasie.
Habichtskraut ist da zu hören – złośana tšawa oder Bittersüßer Nachtschatten, auch Wolfsauge genannt, wjelkowe woko. Pflanzennamen, die für sich und im Zusammenklang der deutschen und wendischen Begriffe, der oft vielfältigen und phantasievollen Bezeichnungen eine wunderbar sinnliche Anmutung haben.
Übergänge und grenz- und sprachenübergreifende Dialoge zwischen Pflanzen und Betrachtenden, aber auch zwischen den Akteuren der Flora untereinander. Denn Pflanzen haben eine eigene Form von Sprache. Kommunizieren über Duftmoleküle oder über Netzwerke zum Beispiel zwischen Bäumen und Pilzen.
So, wie auch die vielfältigen Daseinsformen der Natur nicht isoliert voneinander leben, existiert auch der Mensch nicht für sich allein oder unabhängig von anderen Lebensformen und Ökosystemen.
Eindrücklich dargelegt hat das die US-amerikanische Wissenschaftstheoretikerin und Philosophin Donna Haraway mit ihrer Theorie der Sympoeisis, die die komplexen Verflechtungen zwischen Mensch und Natur betont und davon ausgeht, dass alle Lebensformen miteinander verbunden sind und nur in diesem Netzwerk von Beziehungen existieren können.
Betina Kuntzsch erforscht diese vielschichtigen Verbindungen und Verknüpfungen. Sie zeichnet, erfindet und animiert ein dynamisches Bild der Natur und ihrer irisierenden Prozesse. In unserer Phantasie können wir uns dann noch all das Gewürm und kleinste Getier vorstellen, das zwischen den Pflanzen, über und unter dem Erdboden kreucht und fleucht.
An der Schnittstelle zwischen Erzählung und Raumbezug erklingt das Binsenlied auf verschlungenen und sich überlagernden Wegen über Wände und Ecken, Boden und Decken. Mal wachsen die Konturen zart wie beim Dachhauswurz, dann wiederum wuchern die dicht gewebten Fäden des Wollgrases zu einer bauschigen Stofflichkeit im unstofflichen Medium.
Die stilisierten Pflanzenbilder bilden eine Art Tableau vivant des Stilllebens oder, wie Michel Foucault es genannt hat eine „unkörperliche Materialität“.
Karl Blossfeldt, dessen fotografische Pflanzenstudien in den 1910er- und 20er-Jahren der Systematisierung dienten und die im Geiste der Neuen Sachlichkeit streng formalen Kriterien folgten, schrieb im Vorwort seines Buchs Wundergarten der Natur:
„Meine Pflanzenurkunden sollen dazu beitragen, die Verbindung mit der Natur wieder herzustellen. Sie sollten den Sinn für die Natur wieder wecken, auf den überreichen Formenschatz in der Natur hinweisen und zu eigener Beobachtung unserer heimischen Pflanzenwelt anregen“. So Blossfeldt 1932 und sein Plädoyer für das was wir heutzutage Achtsamkeit und Biodiversität nennen, erscheint uns fast wie eine Binsenweisheit.
Unser Umgang mit dem Planeten, die permanente Gefährdung der Atmosphäre und der Biodiversität tönen fast stündlich durch die Nachrichten, werden tagtäglich mit immer neuen Studien untermauert. Bleibt die Frage, warum es uns so schwer fällt, all dieses Wissen in Handlung umzusetzen oder es auch nur stärker in unserem Bewusstsein zu verankern.
Eine Rede mit dem Titel „Das hier ist Wasser“, die David Foster Wallace 2005 bei einer College-Feier vor Studierenden gehalten hat, beginnt mit der folgenden Parabel:
„Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?«“
Der US-amerikanische Schriftsteller hinterfragt ironisch unsere Blindheit für das Naheliegendste, unsere Selbstgewissheit und unser Ich-zentriertes Denken.
„Das hier ist Wasser“ und wir schwimmen so selbstverständlich darin, dass wir keinen Blick für seine Existenz und schon gar nicht für sein Wesen haben.
Foster Wallace philosophierte in seiner Rede, in seiner Anstiftung zum Denken über diese scheinbar so banale Tatsache und beweist mit dem Gleichnis, dass das Denken unsere Wahrnehmung und unser Verständnis für das Andere, für den Anderen schärfen kann und uns zu Anteilnahme und Empathie ermächtigt. Wobei ja gerade die Empathie von derzeit politisierenden US-Milliardären als Schwäche gegeißelt wird.
Aber Betina Kuntzschs Video-Zeichnung ist ein dezenter Weckruf. Denn die Pflanzen, die hier akustisch und bildhaft aufgerufen werden, sind zum Teil vom Aussterben bedroht.
Ursprünglicher Ausgangspunkt dieses poetischen audiovisuellen Gedichts war die Rote Liste bedrohter Pflanzenarten in Brandenburg, mit einem besonderen Fokus auf den Spreewald. Allein für diese Region führt die Rote Liste 229 bedrohte Pflanzenarten auf.
In Betinas BINSENLIED erklingen ihre Namen auf Deutsch und auf Niedersorbisch – der Sprache der dort lebenden sorbischen Minderheit. Womit ein Bogen zwischen Natur, Umwelt und Kultur gespannt wird; sind doch die Sorben, ihre Bräuche und Traditionen, ihre Kultur und insbesondere ihre Sprache ebenfalls gefährdet.
Überleben nur aufgrund sorgsamer Pflege die Dezimierung und den Rückgang unter anderem durch den Braunkohleabbau, der ganze Landstriche vernichtet hat, die Artenvielfalt reduziert und die Menschen und Dorfgemeinschaften durch Umsiedelung auseinandergerissen hat.
Andererseits aber auch Arbeitsplätze schafft oder neue und komfortabel ausgestattete Wohnungen für die so verpflanzten Menschen. Zwei dokumentarische Fotografien weisen in diesem Sinne in die Gegenwart dieser Region… (Auszug)