Was Ingrid Böck 2015 in ihren Six Canonical Projects by Rem Kohlhaas nach Michel Foucault festhält, manifestiert sich heute in Metropolregionen auf der ganzen Welt. Wie werden Wohnraum, Arbeitsraum und öffentlicher Raum im Stadtgebiet gewichtet? Welche Gruppen und Interessen werden in der Stadtplanung berücksichtigt? Was für eine Rolle spielen zeitliche Dimensionen für ihre Ausgestaltung?
Mit Erfahrungen von Verdrängung versus Leerstand, Lebensqualität versus Wirtschaftlichkeit rücken diese Fragen bei den Verantwortlichen der Gestaltung städtischer Strukturen von Politik bis Architekturbüros zunehmend ins Blickfeld. Dabei gilt es, in jeder Stadt ganz eigene neuralgische Punkte mitzubedenken: vom historischen Wachstum über soziale Gefüge bis zu vorhandenen Flächen und Räumen. Was sich jedoch an keinem der betroffenen Orte mehr von der Hand weisen lässt, ist, dass in der Planung ganzheitliche Denkansätze unerlässlich sind, um deren Zukunftsfähigkeit und die soziale Verträglichkeit sicherzustellen. Urban Morphologies Issue #21/9 untersucht Auslöser, Vorgehensweisen und Auswirkungen von Stadtplanungsprozessen anhand markanter Beispiele der jüngeren Zeit. Als Fundus dienten dafür Berlin, Los Angeles und Basel. Die Auswahl des Städtetrios fiel mit dem Wunsch, der wissenschaftlichen und beobachtenden Perspektive persönliche Blickwinkel entgegenzusetzen: Die Schweizer Komponistin Katharina Rosenberger lebte 10 Jahre in Los Angeles, die Videokünstlerin Betina Kuntzsch stammt aus dem ehemaligen Ostteil Berlins und das ensemble mosaik ist seit seiner Gründung 1997 in dessen ehemaligem Westteil beheimatet. Begonnen im Sommer 2020 sammelten die beiden Künstlerinnen, die Ensemblemitglieder und der Dramaturg Patrick Klingenschmitt in einem mehrstufigen Arbeitsverfahren eigene Erfahrungen, Fachperspektiven, Audio- und Bildmaterial der Orte und Kommentare von Passanten. Entstanden ist daraus eine Konzertinstallation, die das Publikum durch wechselnde zeitliche und räumliche Phasen führt, an deren Ende Entwürfe von Sozialutopien stehen.
Empfangen wird das Publikum auf dem Weg über die Rampe hinab in die Betonhalles des silent green mit gesummten Liedern, wie sie bei Räumungen von besetzten Häusern in den Niederlanden angestimmt wurden, von geflüsterten Myzeliennamen, von Knistern und tentakelhaften Bewegungen der Performer*innen und auf der Leinwand.
Vergangenheit
Die Reise beginnt an drei Orten in Berlin, die exemplarisch für die Auswirkung von dessen langjähriger Teilung in Ost- und Westteil stehen: Die Bernauer Straße – mit der Gedenkstätte Berliner Mauer und in Mitte gelegen zugleich Tourismus- und Investorenmagnet, aber immer noch auch Heimat alteingesessener Anwohner. Die Videoinstallation nimmt die markante Struktur der Gedenkstätte auf, lässt deren Metallstelen in Videozeichnungen aus ihrer zaunartigen Anordnung kippen und sich frei zu neuen Anordnungen formieren. Am Humboldthafen und am Alexanderplatz wurden Freiflächen und DDR-Architektur ausradiert. An die Stelle einstiger Orte der Zusammenkunft treten Mammutprojekte und Prestigebauten – ein Zubetonieren von Identität und Erinnerungsorten. Mit Lucy R. Lippard fragt die erste Szene Place & Memory: „Wenn ein Ort durch Erinnerungen definiert ist, aber niemand mehr da ist, um diese Erinnerungen am Leben zu halten, wird ein Ort dann zum Un-Ort?“
Gegenwart
Die zweite Szene führt nach Los Angeles, in den Stadtteil Boyle Hights. Als Galerien in den 2010er-Jahren begannen, aufgrund günstigerer Mietpreise von Beverly Hills in dieses traditionell lateinamerikanisch geprägtes Gebiet umzusiedeln, löste das massive Proteste der dort Lebenden aus. Ihre Forderung: Investorenschwemmen verhindern, Geschäfte für die Bevölkerung statt Kunst für Besucher aus dem Nobelviertel! Die Kunstszene sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Verursacherin von Verdrängung zu sein. Galerien zogen sich nach und nach zurück. Ein Vorgang, für den sich sogar ein eigener Begriff etablierte: Artwashing.
In der Installation mischen sich Aufnahmen der Proteste mit den Highways von Los Angeles, den bunten Lichtern der darüber brausenden Autos, die zu Lichtstreifen verschwimmen und irgendwo in der Ferne sich auflösen. Sprechchöre von Demonstrierenden wechseln sich ab mit Augenzeugenberichten. Irgendwoher erklingt ein Schlagzeug, das Rhythmen lateinamerikanischer Tänze spielt, ein Saxofon improvisiert dazu. Vielleicht eine Straßenmusikszene?
Durch diese Eindrücke aus einer aktuellen Situation in den USA bewegt sich das Publikum vom Konzept für einen autarken Wohnblock, das zwischen Eingangsrampe und Haupthalle des silent green präsentiert wird, zum „Think Tank“ hinter dem Vorhang in der Haupthalle. In diesem Labor wird als Lösungsansatz für die gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich in der Stadtplanung beispielhaft widerspiegeln, vernetztes Denken und Handeln angeboten. Inspiriert von Vordenker*innen wie Donna Haraway, Anna Lowenhaupt Tsing oder Merlin Sheldrake stehen hier alle Entitäten und Organismen gleichberechtigt nebeneinander. Die exklusive Idee von Gemeinschaften wird durch die des Gefüges ersetzt, in dem alles miteinander verbunden ist und entsprechend in Abhängigkeit voneinander existiert. Die Probe aufs Exempel soll das Wohnen im „self sustainable Living“ machen, in dem das Haus zum Habitat wird. In diesem Habitat der Zukunft gibt es alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft.
Die Tür für die Frage nach dem Verhältnis von Utopie und Realität ist somit für die dritte Szene sperrangelweit geöffnet.
Zukunft
Zurück in der Haupthalle führt der Weg nach Basel ins Klybeckareal. Das ausrangierte Industriegelände wurde 2019 von einem Zusammenschluss von Versicherungen, Pensionskassen und Anlagestiftungen erworben. Ein Bürgerbeteiligungsverfahren, in dem ein anwohnerfreundliches Konzept für die Umnutzung des Areals entwickelt werden sollte, führte zu keinen greifbaren Auswirkungen. Der Baustart wurde darum durch Bürgerinitiativen vorerst gestoppt.
Bürgerbeteiligungsverfahren erfreuen sich nicht nur in Basel zunehmender Beliebtheit im Bestreben der Verantwortlichen um nachhaltige Stadtplanung. Die gesetzliche Verankerung von deren Verbindlichkeit ist freilich nach wie vor ausstehend, wie auch im „Think Tank“ das Publikum nur pro forma eine Einladung zur Partizipation erhält. In diesem Sinne sammelt Urban Morphologies positivistisch Wünsche von Passant*innen und fragt: Wie klingt die Stadt der Zukunft?
In dieser letzten Szene der Konzertinstallation bevölkern spinnenartige Wesen das ehemalige Ciba-Gebäude des Klybeckareals. Pilze schießen aus seinem Boden und neongrüne Organismen überwuchern temporär die maroden Strukturen. Im ersten Teil Sublime Life_but dark erklingen signalhafte Sounds, die an unterschiedliche Wege der Informationsübertragung erinnern: gewispertes elektronisches Knacken und Sirren, die Einwahl eines Modems in eine Telefonleitung, das Rauschen einer Antenne, die den Äther nach Lebenszeichen abtastet.
Im folgenden Teil Tentakulär_denken buchstabieren zwei „Zukunftsforscherinnen“ am Modell des Myzels – eines unterirdisch sich ausbreitenden Fadenpilzes, der sich mit den umliegenden Pflanzen zu einem System verbindet – aus, wie ein zukunftsfähiges soziales Gefüge funktionieren könnte. Wenn alle Glieder des Gefüges miteinander vernetzt sind, reicht ihr Sensorium bis hin zu seinem entferntesten Teil. Alles Handeln wird somit zwangsläufig kollektiv.
Der Vorteil ist ein vereinfachter Informations- und Nährstoffaustausch. Der Nachteil: Jedes Glied im Gefüge kann Kontrolle über die anderen erlangen. In der Lounge über der Haupthalle kann das Publikum nachempfinden, wie sich solch ein tentakuläres Wesen fühlen mag, dessen ganzer Körper aus Sensoren besteht. Hier lädt eine Installation dazu ein, die eigenen Sinne zu schärfen mit ASMR: Die „Autonomous Sensory Meridian Response“ bezeichnet ein Kribbeln, das sich, ausgelöst durch sanfte Signale aus der Umgebung, vom Kopf aus über den Körper verbreitet und eine lösende Wirkung hat. Dazu durchdringen sich in der Videoinstallation die Farben, erscheinen erst als vereinzelte Punkte auf einer Fläche, wuchern darauf, bis sie die Leinwand komplett erobert haben – nur um wieder von einer neuen Farbe durchdrungen und verdrängt zu werden.
Urban Morphologies Issue #21/9 zeigt Verbindungen und Abhängigkeiten einer vernetzten Welt auf, findet sie in Mikro- wie Makrokosmen und untersucht ihre Möglichkeiten. Wohin sie führen, bleibt offen.
Lisa Nolte