Vom Sockel denken

Die Sockel haben die Proportionen des Denkmalssockels. Sie multiplizieren ihn, vervielfachen ihn auf den Platz hinaus und bringen ihn wieder auf ein menschliches Maß. Es sind große Quader, knapp 90 cm hoch, 2 m breit und über 1 m tief. Man kann sich nicht einfach darauf fallen lassen, man muss sich schon etwas anstrengen, um auf den Sockel zu kommen.

Gefertigt sind sie aus rot durchgefärbtem Beton, beschichtet mit roter Farbe, Korallenrot. Je nach Licht, Feuchtigkeit sieht das Rot etwas anders aus. Die unvermeidlichen Graffiti wird es aushalten.

Die Sockel stehen in einem Winkel von 45 Grad zum Denkmal, in einer Linie mit den Achsen der Hochhäuser. Die Sockel nehmen den Platz in Besitz, sie schaffen Inseln, Anlaufpunkte auf dieser riesigen Fläche, die für Vereidigungen und Gelöbnisse gedacht war – umrahmt mit Flutlicht und Fahnenmasten. Heute mit viel wildem Grün umwachsen, ist es ein leerer Platz, ein Freiraum ohne vorgegebenen Zweck, zur freien Nutzung. Das ist selten geworden in der Stadt.

Die Betonsockel laden dazu ein, sich mit dem Ort und seiner Geschichte zu beschäftigen. Wie der große Sockel tragen sie Inschriften. Zu Rot Front – Ernst Thälmann- Rot Front kommen neue Begriffe, die in einen Dialog treten. Rot Front- Edelplatte- Ernst Thälmann- Flocke- Kohlepalme-Rot Front-immerdar- Gasometer- Kopf Faust Fahne.

Dieser lyrisch-abstrakte Dialog führt direkt zu den zehn Kurzfilmen. Die Begriffe sind die Titel der Filme. An der Stirnseite der Sockel neben dem Relief ist jeweils der QR-Code angebracht. Mit dem eigenen Smartphone gelangt man zur Webseite.

Es sind 10 Filme, die die Schichten des Ortes untersuchen. Von 1872, als hier Windmühlen in Weinbergen standen  über  mehr als 100 Jahre Gaswerk auf diesem Gelände bis zum Abriss, das Leben in der DDR, den Bau der Wohnsiedlung und des Denkmals.

Es sind kurze Filme, 3 bis 8 Minuten lang, in denen ich Archivmaterial mit Zeichnungen und Animationen collagiere. Das Archivmaterial stammt aus vielen kleineren und Privatarchiven.

Mir war es wichtig, persönliche Bezüge herzustellen, kleine Geschichten zu erzählen, die Zeiten erlebbar zu machen- im Gegensatz oder in Ergänzung zur großen historischen Wahrheit.

Die Filme haben jeweils eine eigene Formensprache, ich habe viele dokumentarische Techniken eingesetzt. Damit sollen die unterschiedlichen Perspektiven auf das Denkmal deutlich werden. Außerdem erlaubt mir das, stichpunktartig zu erzählen und das Material selbst sprechen zu lassen.

Ich sehe was – arbeitet mit Bildern aus der Aktuellen Kamera, der DDR-Nachrichtensendung – vom 15. April 1986, der Einweihung des Thälmannparks

Flocke – ­ist ein biografischer Fototrickfilm in überwiegend Schwarzweiß-Bildern

Kohlepalme  –  erzählt die Geschichte des Industrieareals

Irmas Teddy  –  mit historischen Fotos, Filmfragmenten und Dokumenten konstruiere ich eine fiktive Biografie der Tochter Thälmanns und der Familie

Immerdar – ein poetisches Zwischenspiel, Bilder vom Denkmal bei Nacht und im Schnee, montiert zu einem Gedicht

Edelplatte  – ein eher klassisches Interview mit einem der Erstmieter, Hardy Krause, der hier in den 80er Jahren Farbdias aufnahm

Halstuch – ein Pionierlied mit Kinderzeichnungen, fröhlich, macht aber Gänsehaut

Gasometer – Fotos des dreifachen Colosseums vom Prenzlauer Berg, illegale Flugblätter und ein offener Brief- eine sehr persönliche Geschichte.

KOPF FAUST FAHNE – erzählt die Geschichte des Denkmals und wie ich, wie wir es damals empfunden haben – 3 Jahre vor dem Mauerfall, wie wir heute wissen.

EinAusBlick – dieser Film ist noch in Arbeit –  er soll die Nutzung des Platzes und die Aufstellung und Übergabe heute zum Inhalt haben. Also das Jahr 2021. Dazu ist schon Material gedreht, wie am Denkmal musiziert, gelesen, gefeiert, demonstriert, gepicknickt und geputzt wird – und es gab Gespräche und Mal-Aktionen mit den Anwohnern und Nutzern des Platzes. Ich bin natürlich auch gespannt, wie die Sockel in Besitz genommen werden, was hier passiert.

Wenn Sie sich beteiligen möchten, können Sie mich gern ansprechen. Oder Maria Wischnewski, die wunderbare, kreative Produzentin der Filme, der ich herzlich danke.

An dieser Stelle vielen Dank an Christina Schmidt, die unglaubliche Arbeit in der Recherche geleistet hat, Kontakte herstellte und den Blick in die hintersten Winkel der Archive frei machte. Den Archivgebern meinen herzlichen Dank, besonders dem Museum Pankow, Bernt Roder und Beate Böhnisch.

Rainer Hässelbarth danke ich für den 16mm Film von der Sprengung der Gasometer, der mich immer noch traurig und wütend macht. Wolfgang Fischer vielen Dank, er stellte mir mehr als 600 s/w Negative aus seinem Archiv zur Verfügung.

Sven Boeck drehte und montierte das poetische Zwischenspiel immerdar, für das Kathrin Schmidt ein Gedicht schrieb.

Ich danke dem ganzen Team herzlich und meiner Familie und den FreundInnen, die ihre Schulhefte und Kinderzeichnungen und vor allem Erinnerungen und Geschichten hervorkramten.

Vielen Dank an Alexis Oehler und Till Gruhl, die die Sockel angefertigt und aufgestellt haben. Dank an Arthur Numrich für die Beratung. Dank an Jens Hoffmeister für die Arbeit an der Webseite und an Michalea Nolte für die wunderbaren Texte.

Ich danke vor allem meinen Auftraggebern, die mit langer Vorlaufzeit diesen Wettbewerb organisiert und umgesetzt haben, besonders Annette Tietz, die die Realisierung meiner Arbeit mit viel Kraft und Herzblut unterstützte.

Ich danke Ihnen, dass Sie heute gekommen sind und wünsche Ihnen viel Spaß und Erkenntnisse beim Schauen der Filme und beim VOM SOCKEL DENKEN.

Betina Kuntzsch, zur Übergabe der Arbeit
Platz am Ernst-Thälmann-Denkmal, Greifswalder Straße in Berlin, 18.11.2021