LOÏE FULLER. DIE ELEKTRISCHE FEE – im Wettbewerb bei Curtas Vila do Conde

https://festival.curtas.pt

Das Festival findet vom 9. bis 17.7.2022 in Vila do Conde bei Porto/Portugal statt.

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Auf den Spuren einer Ausnahmeerscheinung – die über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten war – erweckt Betina Kuntzschs Film die Magie der Loïe Fuller neu, aber ebenso ihre kristalline Kühnheit. Denn Zauber war ihr „Serpentinentanz“ schon im Fin de Siècle nicht. Die irrlichternden Choreographien basierten auf jahrelangen Experimenten mit Phosphor, Kristallen und Textilien sowie auf optischen und technischen Bühnen-Innovationen, mit denen sie die perfekte Illusion schuf. Am Ende des 19. Jahrhunderts den immersiven Raum und den dematerialisierten, den virtuellen Körper antizipiert hat.

Wir schreiben den 5. Dezember 1892. Loïe Fuller gibt ihr Debüt in den Folies Bergères. Lichtpunkte, Lichtfäden und Farben wogen durch den Raum. Eine Tänzerin, multiple Gestalten. Energie und Aggregatzustand wechseln zu un-fassbaren Linien, zu Tropfen und Wellen. Lichtquellen zu Wasser, zu Kristall wie von Zauberhand. Ihr Körper versetzt Hunderte Meter schwarzer Gaze in Schwingung – ist schemenhafte Silhouette unter irisierenden Konturen und solitären Lichtflecken. Farbströmende Lichtblicke. Dem Publikum scheint sie „weit hinter den fallenden Tränen“ zu sein. Le Tout-Paris feiert la Loïe! Die Amerikanerin wird zum Inbegriff der Belle Époque, zur Wegbereiterin des Modern Dance und zur Inspirationsquelle der abstrakten Kunst. Verewigt in Zeichnungen und Skulpturen oder den berühmten Lithographien von Toulouse-Lautrec. Stéphane Mallarmé feierte den „Kunstrausch“ und die „technischen Errungenschaften“ der Fuller. Die Brüder Lumière oder Auguste Rodin gehörten ebenso zu ihren Bewunderern und ihrem Freundeskreis wie die Nobelpreisträgerin Marie Curie.

Betina Kuntzsch untersucht in ihren Video-Zeichnungen sowie in ihren animierten Dokumentarfilmen die Grenzen von Materialität und Immaterialität. Findet im Materialwiderstand von Video-Halbbildern, Filmschmutz oder Artefakten, verblassten Fotos oder zersetztem Zelluloid erhellende Schichtungen von Raum und Zeit und verleiht so dem immateriellen Medium eine faszinierend materielle Qualität.

Für den 16-minütigen Animationsfilm hat Kuntzsch rund drei Jahre recherchiert. Hat in Film- und Bildarchiven bislang unveröffentlichtes Material entdeckt, Kristalle für eigene Aufnahmen gezüchtet, die Geschichte einer Amerikanerin in Paris vor Ort, in Bibliotheken und im Internet erforscht. Hat den Tanz Loïe Fullers nach deren Skizzen und Notizen rekonstruiert und spiegelt mit der Übersetzung in die Lineaturen der Video-Zeichnung die (scheinbare) Leichtigkeit wider, mit der Fullers „Skulpturen aus Licht“ live auf der Bühne entstanden.

In einer eindrücklichen Collage aus historischen Fotografien und Filmstreifen, aus Zitaten von Zeitzeugen und persönlichen Statements der 1862 geborenen Tänzerin und Choreographin macht Kuntzsch das Leben, Forschen und Wirken dieser außerordentlichen und ungewöhnlich emanzipierten Frau plastisch nachvollziehbar.

Denn die aus einem Dorf im US-Bundesstaat Illinois stammende Marie Louise Fuller war Künstlerin und Erfinderin, Produzentin, Filmemacherin und Unternehmerin in Personalunion und bekennende Homosexuelle. Der Film zeichnet die aufwendige Entwicklung der Bühnenkleider als eine Art Liebeserklärung Fullers an ihre jahrzehntelange Lebens- und Arbeitspartnerin Gabrielle Bloch nach.

Eine längst überfällige Hommage an eine Künstlerin, Forscherin und Abenteurerin, die mit ihren bahnbrechenden Innovationen das Kostüm- und das Bühnenbild revolutioniert hat, das Ballett vom Tutu befreite und den weiblichen Körper vom Korsett.

Michaela Nolte, Berlin 2022