Filmstaub Altes Gaswerk. Ein Ausstellungstitel, der Rätsel aufgibt. Mit dem alten Gaswerk ist die IV. Berliner Gasanstalt gemeint, die 1873 ihren Betrieb in Prenzlauer Berg aufnahm und den Bezirk 108 Jahre lang mit Leucht- und Stadtgas versorgte. Und natürlich mit Ruß und diversen anderen Umweltgiften. Letzteren weinte niemand eine Träne nach. Doch die drei Gasometer, einer davon mit beeindruckender Kuppel, prägten das Stadtbild und wurden für die Bewohner zu einem Wahrzeichen. Aber wie kommt der Filmstaub ins Alte Gaswerk? Das weitläufige Industriegelände diente zwar auch als Filmkulisse, speziellen Filmstaub brauchten die Szenenbildner an diesem Ort aber wohl kaum. Auf drei Fotografien sehen wir zurückgelassene Requisiten. Im Moment der Aufnahme selbst schon zum Relikt geworden. Wie die Litfaßsäule vor der „Metallwerkstatt“, der sogenannten UTP-Baracke, in der auch Betina Kuntzsch als Schülerin Unterricht in der technischen Produktion erhielt. Ein weiteres Requisit war der Oldtimer, zu sehen in dem „Filmkulisse“ betitelten Bild und daneben in „Oldtimer“, wo er nur schemenhaft noch zu erahnen ist. Gerade so, als wäre er eingetaucht in schwarzen Filmstaub.
Natürlich geht es nicht um den handelsüblichen, mineralischen Gesteinsstaub, der für Staubeffekte und Explosionen auf Bühnen, beim Film oder Fernsehen eingesetzt wird. Die Künstlerin verleiht dem Begriff eine eigene Bedeutung und visualisiert den Staub, der sich in die Filmschicht eingelagert hat. Wischt ihn nicht hinweg, sondern macht ihn bewusst sichtbar und damit auch die Zeit.
Entstanden sind die Fotografien 1982, einige im Frühjahr 1983. Zwei Jahre zuvor war die Produktion stillgelegt worden. Betina Kuntzsch hatte gerade Abitur gemacht und fotografierte im Rahmen eines Volontariats beim DDR-Fernsehen. In der Konzeption zu ihrer Serie schrieb sie: „Dieses Gaswerk, das uns so viele Jahre, mein ganzes bisheriges Leben lang, mit Stadtgas, Ruß, Staub und Gestank versorgt hat, soll nun abgerissen werden.
Wie geschieht das? Wie sind die Menschen daran beteiligt? Inwieweit lässt sich das Schicksal des Gaswerks mit dem des seit 1947 dort tätigen Kollegen Wenk verbinden?“
Fragen, die seinerzeit viele Menschen in Prenzlauer Berg umgetrieben haben. Eine Ahnung der amüsanten Art gibt das Fundstück, das Betina Kuntzsch zwar nicht fotografiert, als Dokument aber aufbewahrt hat, mit dem Spruch: „Berlin ohne Gasometer – ist wie Boulette ohne Hackepeter“.
Die Denkmalwürdigkeit der Gasometer wurde diskutiert, Künstler, Architekten und Studenten entwickelten Ideen und Visionen für kulturelle Nutzungskonzepte.
Die Humboldt Universität war ebenso beteiligt wie die Kunsthochschule Weißensee. Der geplante Abriss der Gasometer entfachte bis dato in der DDR ungekannte Bürgerproteste. Noch heute gibt es Stimmen, die darin die Keimzelle der späteren Bürgerbewegung sehen. Doch die Menschen, die Betina Kuntzsch in ihrem Konzept mitbedacht hat, die Arbeiter und die Bewohner, wurden am künftigen Schicksal der Gasometer nicht beteiligt. Auch nicht Kollege Wenk. Im Juli 1984 wurde der letzte Gasometer „fachmännisch in die Luft gejagt“, wie der Schriftsteller Rolf Schneider im Spiegel schrieb.
Entstanden ist der Ernst-Thälmann-Park, mit über 1300 Wohnungen und dem Planetarium. Ein Areal, auf dem zumindest der Gasometer mit der Kuppel durchaus hätte integriert werden können. Ob nun die Gasometer einem SED-Funktionär ein Dorn im Auge waren oder aber der sowjetische Großbildhauer Lew Kerbel in ihnen Konkurrenz für sein Thälmann-Denkmal wähnte, erhitzt noch heute manches Gemüt. Betina Kuntzsch zeigt das Denkmal als monumentales Pappmodell und in Relation zum Wasserturm des Gaswerks. Angekratzt von den Spuren der Zeit, noch bevor Kerbels monolithischer Bronze-Thälmann gegossen war.
Die Künstlerin ist unweit des Gaswerks aufgewachsen. In der Greifswalder Straße, die auf zwei Fotografien zu sehen ist, bei denen man kaum ausmachen kann, was nun realer Ruß und was Filmstaub ist, sowie in „Dimitroff- (Danziger)/ Ecke Greifswalder Straße“ mit dem markanten Karl-Marx im Hintergrund. Zur Zeit der Sprengung studierte Betina Kuntzsch im zweiten Semester an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Dem Tor zur Malerei, wie das Kunstforum einmal schrieb, den Titel allerdings mit einem Fragezeichen versah. Weshalb Betina Kuntzsch ihr Abschluss-Diplom 1988 mit einem Video gemacht hat. Da sie in Leipzig lebte – und das Bouletten-Gasometer-Flugblatt während eines Heimatbesuchs nur „unter schlechtem Gewissen“ von einer Straßenbahnscheibe abgelöst hat –, sind in der Ausstellung keine Fotografien von der Sprengung der Gasometer zu sehen.
Doch wie unschwer zu erkennen ist, geht es in der Serie „Filmstaub Altes Gaswerk“ auch nicht um eine fotografische Dokumentation. Denn jeglicher Dokumentarcharakter wurde hinweggeschwemmt. Im Wortsinne. Zunächst bei einem Wassereinbruch im Atelier der Künstlerin, später lagerten die ohnehin schon lädierten Negative in einem Keller, der seinerseits noch mal überspült wurde. Betina Kuntzsch hat die Negative dennoch aufbewahrt und Jahrzehnte später wieder gesichtet.
Wer die Künstlerin und ihre Arbeiten kennt, weiß um ihre Vorliebe für Materialdefekte jeglicher Art, die ihr dann Anlass für die poetischen Bilder sind. In den Videozeichnungen „Bahnblick“ waren es zerkratzte Straßenbahnfenster, in „Eine Reise tun“ wurden Video-Halbbilder zu rasanten Störwellen, in der Fotoserie „Blüte“ war es die zerrissene Plastiktüte in einem Baum, ein sozusagen zivilisatorischer Materialdefekt. In der Serie „Silbersalz“ hat sie aus gefundenem Material – aus zerstörten Nitrofilmen der Stummfilmzeit – fast abstrakte Salzprints entwickelt.
In der Serie „Filmstaub Altes Gaswerk“ besteht das found footage aus Betinas eigenen Negativen. Obwohl eine Reihe der Fotografien wie aus längst vergangenen Zeiten anmuten. Selbst dem 20. Jahrhundert entrückt erscheinen. Gerade mit den Artefakten, mit tatsächlichem oder vermeintlichem Schmutz, mit Störungen und Bildrauschen, gewinnt Betina den Fotografien eine ganz eigene Materialität ab. Ganz eigene und eigenwillige Erzählungen.
„Tatsächlich aber muss, damit es überhaupt ‚Botschaften‘ gibt, […] ein Rauschen gegeben sein“, so Michel Foucault in Botschaft oder Rauschen?. Der Störfall oder Unfall und nicht zuletzt auch der Zufall bilden einen Materialwiderstand, dem die Künstlerin immer wieder spannende Strukturen entlockt. Warum sie denn auch für „Filmstaub Altes Gaswerk“ die unbeschädigten, die richtig belichteten und ausreichend entwickelten Negative bewusst aussortiert hat.
Nun ist in Zeiten arrivierter Müllkunst längst auch der Kunststaub salonfähig. In der Ausstellung Fraktale III hat Thorsten Streichardt 2002 eine überdimensionale Maus aus echten Wollmäusen geformt, der junge Spanier Olmo Blanco benutzt Staub als Zeichenmaterial. Anfang der 80er-Jahre entdeckte Erwin Wurm die Staubskulptur. Mit gewöhnlichem Hausstaub markierte der österreichische Bildhauer einen Gegenstand, der auf dem Podest gestanden haben könnte. Das Physische ließ Wurm als potentielles Bild im Kopf des Betrachters entstehen. Betina Kuntzsch verfährt umgekehrt. In ihrem Konzept wird das Gegenständliche vom Filmstaub in der Filmschicht immateriell überlagert. Selbst das mögliche Bild hat sich in diesen Fotografien meist verflüchtigt. Fusseln und Kratzer, Schmutz oder Wasserränder formen ein Neues, unter dem sich das ursprüngliche Motiv abgelagert hat. Eine verblasste Erinnerung, die wir plötzlich wiederentdecken. Ähnlich dem Proust’schen Madeleine-Effekt. Denn auf dem Gros der Negative sehen Sie nichts. Manche sind einfach nur weiß. Mit analogen Mitteln wäre auf den Fotos nichts weiter zu erkennen als eine schwarze Fläche. Betina hat sie gescannt – mitsamt dem Dreck und den Wasserschäden oder Rissen, die sich in die Filmschicht eingegraben hatten sowie mit dem durch Alterung ohnehin entstehenden Filmschmutz –, und die Kontraste verstärkt. Durch die digitale Restaurierung wird das Fenster in „Neon“ überhaupt erst sichtbar. Ebenso der Arbeiter in „Wasserturm/Arbeiter“, wo außerdem ein kleiner Filmriss zum rätselhaften Flugobjekt wird –, irgendetwas zwischen Bonbon und Bombe. Derart werden ‚verschwundene’ Inhalte wiederentdeckt, neue entstehen.
Wenn der „Wasserturm I“ von einem Spinnennetz umwoben wird oder ein Wasserfleck in der Fotografie „Werkgelände“ zur eruptiv ausfransenden Sonne. Während das real zersplitterte Glas in „Ausblick“ selbst schon wie das Überbleibsel einer kleinen Wasserlache anmutet oder sich der „Filmschmutz“ – bei dem es sich wohl um das Ende oder den Anfang eines Negativstreifens handelt –, als abstrakt-malerisches Motiv entpuppt. Was für sich schon faszinierend ist, aber noch verblüffender wird, wenn daneben in „Bunkerblick/Winter“ der Filmschmutz die Stadtsilhouette mit ähnlichen, regentropfenartigen Spuren überzieht.
In der Verschränkung analoger und digitaler Techniken gewinnt Betina Kuntzsch dem zerstörten Material ganz eigene stoffliche Qualitäten ab. In die dokumentarischen Momente lagern die Kratzer und das Bildrauschen Zeitschleifen ein. Erinnerungen an die Vergänglichkeit.
Auch von Utopien. Im 19. Jahrhundert stand das Gaswerk als Sinnbild für den technischen Fortschritt. In den 1980ern wurde es zum Symbol des aufkeimenden Widerstands in der DDR. In manchen Fotografien scheint das noch unsichtbare Rumoren dieser Zeit im Filmstaub durchzuschlagen. Wie blubbernder Dampf aus dem Untergrund steigt der schwarze Filmstaub in „Ausgang Dimitroffstraße“ auf. Ein Wasserfleck und ein schnurgerader Kratzer oder Knick schlagen einem Pendel gleich in „Wasserturm II“ aus.
In Goethes Faust heißt es:
Werd ich zum Augenblicke sagen,
Verweile doch, du bist so schön,
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde geh’n.
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann seist du deines Dienstes frei.
Die Uhr mag steh’n, der Zeiger fallen.
Es sei die Zeit für mich vorbei.
Das Alte Gaswerk ist Geschichte. Ebenso wie die DDR. Nur das Thälmann-Denkmal hat überlebt.
Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung
BETINA KUNTZSCH „Filmstaub Altes Gaswerk“
in der Galerie Mönch Berlin, am 18. Oktober 2014
Von Michaela Nolte